David Berger

GERHARD LUDWIG MÜLLER: Katholische Dogmatik.

Für Studium und Praxis der Theologie, Herder-Verlag: Freiburg/Breisgau – Sonderausgabe 52003, 879 Seiten, ISBN 3-451-28219-4; 29,90 €.

 

Nachdem der Münchener Dogmatiker Gerhard Ludwig Müller im November letzten Jahres zum Bischof der Diözese Regensburg ernannt wurde, hat der Herderverlag nun eine preisgünstige Studienausgabe dessen wichtigsten, bereits auch in anderen europäische Sprachen übersetzten Werkes, seines Handbuchs der katholischen Dogmatik, auf den Markt gebracht. Diese Ausgabe stellt zugleich die fünfte, allerdings wohl seit der zweiten Auflage (1996) unverändert gebliebene Auflage des Werkes da (1). Damit ist dieses auf dem besten Wege dazu, zum Nachfolger von Ludwig Otts häufig aufgelegtem „Grundriss der Dogmatik“ (91978) zu werden.

Dies nicht nur aufgrund der Auflagenstärke und weil es sich bei dem Lehrbuch im Unterschied zu allen anderen auf dem Markt befindlichen Dogmatiklehrbüchern in deutscher Sprache um ein einbändiges, aus „einer Hand“ hervorgegangenes Werk handelt. Auch unter didaktischem Aspekt, der sicher mit ein Erfolg für Otts Werk war (2), wird kaum eine zweite deutschsprachige Dogmatik jener von Müller das Wasser reichen können. Die bei Ludwig Ott im Hintergrund stehende profunde Kenntnis der Theologiegeschichte sowie der aktuellen Theologie stellt auch Müller in sehr langen theologiegeschichtlichen Ausführungen, besonders häufig auch aus dem Bereich der mittelalterlichen Theologie, unter Beweis. Alle wesentlichen Fragen der Dogmatik werden angesprochen.

Was Müllers Dogmatik auf den ersten Blick von jener Otts und allen anderen Lehrbüchern der klassischen Dogmatik unterscheidet, ist der radikal veränderte Aufbau seiner Dogmatik. War das klassische Schema eng an die Gliederung des Glaubensbekenntnisses und in einem weiteren Schritt an die Summa theologiae des Thomas angelehnt gewonnen und von daher strikt theozentrisch gehalten, so hat Müller, Schüler eines Schülers von Karl Rahner (Karl Lehmann), nun mit dem Vorschlag Karl Rahners, die Abfolge der klassischen Traktate aufzugeben, Ernst gemacht. Vorausgeschickt hat er dieser Neukonzeption den Vorwurf an die klassische Theologie, in ihrer „manchmal etwas sehr schematischen“ Gliederung bestehe die Gefahr, „dass man die immanente Trinität Gottes schon bei der Behandlung der Schöpfungslehre als gegeben voraussetzt, obwohl sie sich erst im Gang der Heilsgeschichte (ökonomische Trinität) als das transzendente Prinzip von Schöpfung und Heilsgeschichte manifestiert.“ (40) Damit ist die folgenreiche Entscheidung gefallen, dass Müllers Dogmatik sich nun nicht mehr wie die klassische Theologie in ihren besten Vertretern als Wissenschaft „von oben“, als subalternierte Wissenschaft aus dem Wissen Gottes und der Selige (3), sondern als eine solche „von unten“ verstehen möchte. Dass sie durch diese enge Anlehnung an das heilsgeschichtliche Konzept ihren Wissenschaftscharakter gefährdet, sei nur nebenbei erwähnt und in Frage gestellt, ob es für dessen Wiedergewinnung wirklich genügt, dass sie sich auch bemüht, eine Beitrag zu der Frage zu leisten, wie Menschsein glücken kann (27).

Als alles bestimmender Ausgangspunkt steht am Anfang eine sehr ausführliche, sehr eng wiederum an Karl Rahners anthropologische Wende der Theologie und Vorstellungen der nouvellethéologie angelehnte „Offenbarungstheologische Erkenntnislehre“. Hier werden konsequent die Weichen für den weiteren Aufbau gestellt und zugleich die Charakterisierung der gegenwärtigen Dogmatik als überflutet und ganz in Bann gehalten von fundamentaltheologischen Fragestellungen, bestätigt.

Die in diesem Kapitel gefeierte Ablösung eines instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnisses durch ein kommunikationstheoretisches, geschichtlich-personales Verständnis des Offenbarungs­geschehens sowie die zentrale Rolle, die nach Rahner dem transzendentaltheologischen Verständnis des „Hörers des Wortes“ nach der anthropozentrischen Wende zukomme, entspricht in ihrem Stellenwert ganz der formalen Grundintuition im Sinne Peter Hünermanns (4); d.h. sie ist jene Leitperspektive, die das gesamte weiter Vorgehen bestimmen  möchte. Sie bringt es mit sich, dass die eigentliche Dogmatik nach der Klärung der fundamentaltheologischen Fragen nicht mehr bei Gott, wie er in sich ist, einsetzt. Vielmehr gilt das erste Wort und die erste Aufmerksamkeit des Dogmatikers dem geschichtlich-konkreten Menschen als Adressaten der Selbstmitteilung Gottes (theologische Anthropologie), gefolgt von der Schöpfungslehre, auf die wiederum die Theo-Logie („Selbstoffenbarung des Schöpfers als Gott Israels und Vater Jesu Christi“), dann die Christologie und Soteriologie, die Pneumatologie („Offenbarung des Geistes vom Vater und vom Sohn“) und darauf erst die trinitarische Gotteslehre („Selbstoffenbarung Gottes als Liebe von Vater, Sohn und Geist“) folgt. So möchte Müller – nach seinen eigenen Aussagen – in seiner Gliederung die heilsgeschichtliche Abfolge der Selbsterschließung Gottes widerspiegeln. Der Trinitätslehre, die die Mitte der Gliederung bildet, folgt die Mariologie als Gegenstück zur Anthropologie zu Beginn, da Maria „Urbild des einzelnen begnadeten Menschen“ ist. In Entsprechung zur Schöpfungslehre steht die sich an die Mariologie anschließende Eschatologie, der die Lehre von der Kirche (Ekklesiologie), die Sakramentenlehre und ganz am Ende die (sehr kurz ausgefallene) Gnadenlehre folgen. Was dem von der klassischen Theologie herkommenden Leser als Chaos erscheinen wird, hat also ganz klare Grundlagen: Die neue Gliederung setzt den „anthropologischen“ Neuansatz der Theologie unter Einräumung einer zentralen Rolle an die Kategorie „Heilsgeschichte“ konsequent um.

Didaktisch klug sind vor allem die Einzeltraktate aufgebaut: Sie alle folgen, wo nicht inhaltliche Gründe dem entgegenstehen, einer festen Gliederung: Zunächst (I.) wird ein Aufriss der aktuellen Problemstellung der Thematik gegeben. Dann (II.) folgt die Darstellung der biblischen Grundlagen, (III.) die der (dogmen-)geschichtlichen Entwicklung. Die systematische Darstellung (IV.) schließt die jeweiligen Traktate ab.

Auffällig ist dabei der große Raum, den die Darstellung der Theologiegeschichte einnimmt. Ebenso wie es erstaunt, dass gerade in diesem Teil des Traktates, der offensichtlich an die Stelle des klassischen Traditionsbeweises gerückt ist, sich in postmoderner Versöhntheit Dokumente des kirchlichen Lehramtes, Texte der bzw. über die Väter und Kirchenlehrer ebenso finden wie jene von Häretikern (in besonderer Häufigkeit: Martin Luther) oder zweifelhafter neuerer Autoren (Karl Rahner, Gustavo Gutiérrez, Edward Schillebeeckx, Hans Urs von Balthasar usw.). Reichlich wird also aus der Theologiegeschichte geschöpft, aber zumeist so, dass es sich in das neue Gesamtschema einordnet und vieles, auch Widersprüchliches so freundlich bzw. im Sinne des Grundschemas interpretiert wird, dass es sich gut zusammenfügt. Diese freundliche Interpretation kommt in den seltensten Fällen der Neuscholastik zugute (5), sie fällt vielmehr besonders bezüglich der Befreiungstheologie sowie der „nouvelle théologie“ und verwandter Strömungen auf: So werden etwa – ein Beispiel von vielen – Theologen wie Karl Rahner, Henri de Lubac, Otto H. Pesch und Gisbert Greshake dafür gelobt, dass sie die Gnadenlehre aus den „Aporien“ der nachtridentinischen Gnadentheologie herausgeführt hätten (809). Die Frage muss erlaubt sein, ob die Gnadenlehre Rahners, die einen bedenklichen und folgenreichen Schlingerkurs zwischen Allerlösungs- und Selbsterlösungslehre darstellt, ob die Aufstellungen Greshakes, die einer Rehabilitation des von der Kirche verurteilten Pelagianismus das Wort reden, wirklich echte Lösungen der Probleme des Streits de auxillis darstellen.

Gelegentlich wird auch Entscheidendes, was in den strukturellen Entwurf nicht passt, einfach beim Zitieren ausgelassen. Dies zeigt sich besonders dort, wo Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils angeführt werden. Besonders deutlich etwa, wo im Hinblick auf Begriff und Ziel der Theologie als Wissenschaft Optatamtotius zitiert wird (15). Während die Aufforderung zitiert wird, die jungen Theologen, sollen tief in die katholische Lehre eindringen, wird der für die Dogmatik entscheidende, auch ins neue Kirchenrecht aufgenommene Passus, dies habe „mit dem heiligen Thomas als Lehrmeister“ zu geschehen, unterschlagen. Freilich muss der Gerechtigkeit halber gesagt werden, dass Müller dann doch in dem jeweils dritten Teil seiner Traktate den Aquinaten sehr ausführlich zu Worte kommen lässt, freilich mehr unter theologiegeschichtlichem Interesse.

Manchmal langt für die Interpretation von Texten im Sinne des Gesamtentwurfs schon ein einziges Wort. Etwa dort, wo Müller sagt, das II. Vatikanum habe im „Anschluss an die neuere Theologie (H. de Lubac, H. Rondet, K. Rahner u.a.)“ davon gesprochen, dass es „’nur eine letzte Berufung des Menschen, die göttliche’ (GS 22) geben kann.“ (127, Herv.: Rez.) In Wirklichkeit spricht das Konzil davon, dass es „nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche“. Über das „kann“ bzw. die Möglichkeit eines statusnaturae puraemacht es dabei gerade keine Aussage, sondern nur über die tatsächliche Gegebenheit im gegenwärtigen Status der menschlichen Natur. (6)Von daher mag das „kann“ die Position Pater de Lubacssein. Niemals aber der katholischen Kirche, die diese Position, noch kurz vor dem Konzil, in der Enzyklika Humanigeneriseindeutig, energisch und mit guten Gründen zurückgewiesen hat.(7)Die Möglichkeit zu leugnen hieße nämlich in einem weiteren Schritt den Unterschied zwischen der natürlichen und die übernatürlichen Ordnung, den auch das I. Vatikanische Konzil so klar dargestellt hat (duplexordo cognitionis), bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen und damit einem weitreichenden Konfusionismus den Weg zu bereiten, der noch bis in den anscheinend nebensächlichsten Traktat Auswirkungen zeigen wird. Ist dieser Unterschied zwischen Natur und Gnade nicht mehr klar, wird man auch nicht mehr sinnvollerweise zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Theologie unterscheiden können. Spezifikumder natürlichen Theologie bzw. der Metaphysik ist es, dass sie von den Kreaturen ausgeht und von diesen und ihren Erfahrungen ausgehend zu Gott als der höchsten Ursache aufsteigt, während die übernatürliche Theologie den genau umgekehrten Weg wählt: Ihr Ausgangspunkt ist das allein durch die Offenbarung zu erkennende innere Wesen Gottes (und zwar zunächst wie er in sich ist, vor aller Hinwendung zum Geschöpflichen), von diesem Ausgangspunkt geht sie aus und erklärt alles Weitere, steigt von hieraus dann auch bis zu den Kreaturen hinab. Im Hinblick auf die Neuanordnung der Traktate in der Dogmatik Müllers scheint also das fast unscheinbare Umbiegen der Konzilsaussage im Sinne der nouvellethéologie doch nicht ganz zufällig zu sein. Zeigt sich hier nicht sehr anschaulich, wohin es führt, wenn man das Konzil nicht, wie dies der Heilige Vater wünscht „im Sinne der Tradition interpretiert“ (Novo millenio ineunte), sondern im Geiste von solch zweifelhaften Theologen wie Karl Rahner oder Henri de Lubac?

Ähnliches ließe sich auch zur Frage nach der dogmatischen Qualifikation der Siebenzahl der Sakramente (641) oder jener der Begrifflichkeit von Materie und Form in der Sakramentenlehre(636) sagen. Wenn Müller hier sagt: „Zum Dogma wurde allerdings nicht die philosophische Konzeption [aristotelisch-thomistische Lehre von Materie und Form] erhoben“, so ist dies natürlich an und für sich richtig, aber eben ungenau und kann – sicher gegen die Absicht des Autors – irreführend wirken. Die Aussage beachtet zu wenig, dass Johannes Paul II. im Anschluss an Humanigeneris in Fides et Ratio (Nr. 96) von einer „immerwährenden Gültigkeit der in den Konzilsdefinitionen verwendeten Begriffssprache“ spricht bzw. dass diese Begriffe nicht selten nötig sind „zur heiligmäßigen Bewahrung und treuen Darlegung des Glaubensgutes“ (Ad tuendam fidem). Der Satz wird freilich verständlich, wenn man die sehr restriktive Terminologie, die Müller bezüglich des Begriffs Dogma eingangs einführt, beachtet: Zu den Dogmen im Sinne des I. Vaticanums gehören nach Müller nur die Unbefleckte Empfängnis, Infalibilität / Jurisdiktionsprimat sowie die leibliche Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel (80).

Die angeführten Kritikpunkte sollten aber die eingangs positiv gewürdigten Aspekte des Werkes, dem bereits von solch verschiedenen Theologen wie Klaus Berger auf der einen und Herbert Vorgrimler auf der anderen Seite höchstes Lob gezollt wurde, nicht vergessen lassen.

 

 

(1) Dies wirkt sich dahin aus, dass das sonst sehr hilfreise Literaturverzeichnis (815-837) bereits deutlich veraltet bzw. im Hinblick auf die neuere Literatur unsvollständig ist!
(2) Unter Studenten kursierte damals der Spruch: „Mit Ott geht’s flott“.

(3) Nach dem Aquinaten etwa (Sth Ia q.1) ist die Theologie Partizipation am Wissen Gottes selbst. Gleichsam „von oben“, mit den Augen Gottes schaut sie auf sein Werk, das von ihm ausgeht und zu ihm zurückkehrt. Gleichzeitig ist sie in diesen Kreislauf aufgenommen, da sie aus seiner Offenbarung hervorgeht und gleichsam zu ihm zurückwächst, indem sie versucht, der beseligenden Schau der Heiligen immer näher zu kommen, Gott zu sehen, wie er sich selbst sieht. Insofern kann Thomas auch von der sacradoctrina als „einer Art Einprägung des göttlichen Wissens“ sprechen, deren Einheitlichkeit ihr Licht von der Sonne der „höchsten Einheit und Einfachheit des göttlichen Wissens“, empfängt.

(4) Cf. Peter Hünermann, Deutsche Theologie auf dem Zweiten Vatikanum, in: W. Gerlings u.a. (Hrsg.), Kirche sein. FS H.J. Pottmeyer, Freiburg/Br. 1994.

(5) Erfreulich ist immerhin, dass jetzt nicht mehr, wie noch in der ersten Auflage der Eichstätter Thomist Franz von Paula Morgott für einen Spanier gehalten wird. Andere Namen und deren Gedanken, die gerade für die Gnadenlehre und die behaupteten Aporien wichtig gewesen wären (Norberto Del Prado; Ceslaus M. Schneider oder Santiago Ramirez) sucht man in dem Lehrbuch denn auch vergeblich.

(6) Dabei ist selbstverständlich (aufgrund der Präsumption, dass sich in Konzilsbeschlüssen keine Glaubens­irrtümer befinden) davon auszugehen, dass es diese Aussage, da sie gegen die Lehre der Kirche verstößt, auch gar nicht machen möchte.

(7) Dazu: David Berger (Hrsg.), Die Enzyklika „Humani generis“ Papst Pius XII. 1950-2000. Mit einem Vorwort von Leo Scheffczyk, Köln 2000.